Management

Merck-Sicherheitschef Jürgen Warmbier im Exklusiv-Interview

11.10.2012 - Flüssigkristalle für den Fernseher, Medikamente gegen Multiple Sklerose: Merck ist eines der weltweit bekanntesten Pharma- und Chemieunternehmen - mit rund 40.700 Mitarbeitern in 6...

Flüssigkristalle für den Fernseher, Medikamente gegen Multiple Sklerose: Merck ist eines der weltweit bekanntesten Pharma- und Chemieunternehmen - mit rund 40.700 Mitarbeitern in 67 Ländern, davon 10.900 in Deutschland und allein im Darmstädter Stammwerk etwa 8.100. Unser wissenschaftlicher Schriftleiter Heiner Jerofsky befragte Jürgen ­Warmbier zu seinen Sicherheitskonzepten, Präventivmaßnahmen und zur neuen hochmodernen Sicherheitszentrale im Stammwerk Darmstadt.

GIT-SICHERHEIT.de: Herr Warmbier, Sie sind seit sieben Jahren für die Sicherheit ­eines der weltweit führenden Pharma- und Chemie­unternehmen an den beiden größten Stand­orten in Deutschland, Darmstadt und Gernsheim, verantwortlich. Welche Sicherheitsphilosophie vertreten Sie und welchen Stellenwert haben Prävention und maßgeschneiderte Sicherheitskonzepte bei Ihrer Tätigkeit?

Jürgen Warmbier: Alle Maßnahmen sind darauf ausgerichtet, präventiv agieren zu können. Prävention ist oberstes Gebot. Das gilt gleichermaßen für alle lokalen Aktivitäten an den deutschen Standorten sowie weltweit. Weltweit gültige Security-Standards garantieren eine durchgängige und einheitliche Sicherheitsphilosophie und setzen gleichermaßen Qualitätsstandards.

Sicherheitskonzepte sind bekanntermaßen das Ergebnis von aktuellen Gefahren- und Bedrohungsanalysen. Wo liegen nach Ihrer Risikobeurteilung die größten Gefahren für einen Konzern wie den Ihren - und wie schätzen Sie die aktuelle Risiko- und Bedrohungssituation in Deutschland, Europa und weltweit ein?

Jürgen Warmbier: Zum jetzigen Zeitpunkt sehe ich keinen Anlass über besondere Sicherheitsmaßnahmen nachzudenken. Dennoch gibt es Themen, die ständig aktuell sind und Aktivitäten unsererseits erfordern. Als Pharmaunternehmen muss man immer ein Augenmerk auf Produktfälschungen haben. Für forschende Pharmaunternehmen gilt stetige Aufmerksamkeit hinsichtlich „militanter Aktivisten", unter dem Deckmantel „Tierschützer". Hier stehen wir mit unserer Corporate Security im engen Kontakt und handeln vorausschauend.

Welche Sicherheitskonzepte und Planungen helfen Ihnen bei der Minimierung von Risiken und Gefahren?

Jürgen Warmbier: Alle unsere Konzepte und Planungen sind Top-down-Prozesse. Das heißt, ausgehend von Gefährdungsanalysen werden Standards für alle Merck-Standorte abgeleitet. Damit erreicht man nicht nur einheitliche Qualitätsstandards, sondern trägt auch den jeweiligen standortspezifischen Anforderungen Rechnung. So gelten für alle Standorte hinsichtlich der Zugänglichkeit zum Gelände, zu Gebäuden und Räumen die gleichen Standards. Je nach Eingruppierung sind entsprechende Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen.

Die wertvollen Betriebsstätten und Anlagen auf dem Gelände sind vielfältigen Gefahren ausgesetzt. Wie und mit welchen Maßnahmen verhindern und bekämpfen Sie Betriebsstörungen, kriminelle Handlungen (Diebstähle, Sabotage, Spionage, terroristische Angriffe) und Naturereignisse?

Jürgen Warmbier: Wie gesagt hat Prävention bei uns erste Priorität. Deshalb ist ein gut ausgebautes Kommunikationsnetz, Netzwerk mit Sicherheitseinheiten aus anderen Unternehmen sowie zu Sicherheitsbehörden ein essentieller Bestandteil. Lokal betrachtet ist ein funktionierendes Zutrittsberechtigungssystem der erste Schritt zur Gefahrenprävention. Durch die Sensibilisierung aller Mitarbeiter für das umfassende Thema „Werksicherheit" mit gezielten Programmen schafft man ein Sicherheitsbewusstsein. Für besondere Szenarien gibt es zum Teil auch computergestützte Simulationen, die uns als Akteure sehr gut vorbereiten und im Bedarfsfall gezielt handeln lassen.

Merck und andere Chemieunternehmen aus Deutschland und Österreich stellen das Know-how ihrer Werkfeuerwehren über das Transport-Unfall-Informations- und Hilfeleistungssystem (TUIS) der Allgemeinheit zur Verfügung. Was muss sich der Laie unter TUIS vorstellen?

Jürgen Warmbier: TUIS steht für Transport- Unfall- Information- und Hilfeleistungssystem. Es wurde bereits 1982 durch den Verband der Chemischen Industrie Deutschland ins Leben gerufen. Es basiert auf dem Grundsatz des „Verantwortlichen Handelns", oder englisch „Responsible Care", wozu sich die Chemische Industrie selbst verpflichtet hat. Die Hilfeleistung besteht aus drei Stufen: erstens die telefonische Beratung, zweitens die
Fachberatung vor Ort an der Einsatzstelle - und drittens helfen Einsatzkräfte der Werkfeuerwehren direkt vor Ort, zum Beispiel mit ihren Spezialgeräten. Die Werkfeuerwehren der Chemischen Industrie Deutschland leisten dabei jährlich in über tausend Fällen Hilfe.

Wie eng ist die Zusammenarbeit, die Partnerschaft mit anderen Feuerwehren und Hilfsorganisationen speziell bei Schulungen oder beim Einsatz von Spezialgeräten. Gibt es dafür aktuelle Beispiele?

Jürgen Warmbier: Die Zusammenarbeit mit den öffentlichen Feuerwehren, den Hilfsorganisationen, der Polizei und dem THW ist ausgesprochen gut. Nicht nur die Kooperation mit der Stadt Darmstadt funktioniert, sondern ebenso mit den umliegenden Landkreisen und Städten. Das Messkonzept Südhessen ist ein ausgezeichnetes Beispiel gelebter Zusammenarbeit. Das Konzept umschreibt das gemeinsame Tätigwerden bei Gefahrstoffaustritten. In diesen Fällen werden spezielle Messfahrzeuge der Feuerwehren zur Ermittlung des ausgetretenen Stoffes (Konzentration, Ausbreitung) alarmiert und über die Messzentrale der Werkfeuerwehr Merck im gesamten südhessischen Raum gesteuert. So können wir unser chemisches Know-how zur Verfügung stellen und die öffentliche Gefahrenabwehr unterstützen. Das ist gelebte Verantwortlichkeit, das schon erwähnte Responsible Care.

Im Werk Darmstadt hat eine nagelneue Notruf- und Serviceleitstelle (NSL) ihren Betrieb aufgenommen. Dafür wurde ein neues Leitstellengebäude errichtet. Zuerst eine große Investition - aber auch ein wichtiger Schritt zu noch mehr Sicherheit. Können Sie unseren Lesern die wichtigsten Funktionen und Aufgaben dieser hochmodernen NSL erläutern?

Jürgen Warmbier: Unsere Sicherheitsleitstelle dient als weltweite Notrufannahmestelle für Merck. Egal, was in der Merck-Welt geschieht, die relevanten Meldungen laufen hier zusammen. Für den Standort Darmstadt ist die Leitstelle das „Herzstück" für alle denkbaren Sicherheitsdienstleistungen. Rund 30.000 automatische Meldungen laufen hier zusammen - beispielsweise von Einbruch-, Brandmelde- und Haustechnikanlagen - und werden hier durch modernste Technik bearbeitet und gesteuert. Ebenso werden täglich durch die Leitstelle alle sicherheitsrelevanten Dienstleistungsaufträge disponiert. Im Ereignisfall ist hier der Sitz der Krisenkommunikation, der Werk-Einsatzleitung und der Technischen Einsatzleitung. Zur Sicherstellung der Gefahrenabwehr bei Gefahrstoffaustritten erfolgt die Steuerung der operativen Einsatzkräfte, sprich öffentliche Feuerwehr und Werkfeuerwehr, durch die sogenannte „Gefahrstoff A,B,C-Messzentrale".

Entspricht die Sicherheitszentrale der neuen Leitstellen-Norm DIN EN 50518 in baulicher (Teil 1), technischer Sicht (Teil 2) und erfüllt sie auch die betrieblichen Anforderungen (Teil 3)?

Jürgen Warmbier: Die Norm beschreibt den Stand der Technik. Orientierend an der Norm haben wir uns insbesondere stark an den betrieblichen Belangen und Abläufen orientiert.

Das Leistellenpersonal hat eine besonders wichtige und verantwortungsvolle Schlüsselposition für die Werksicherheit. Welche ­Qualifikationsnachweise und besonderen ­Fähigkeiten haben diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter?

Jürgen Warmbier: Wir sind eine integrierte Leitstelle. Das heißt, von ihr werden alle Aufgaben hinsichtlich Brandschutz, Technische Hilfe, Rettungsdienst sowie Werkschutz bewältigt. Folglich sind alle Mitarbeiter in diesen Bereichen qualifiziert. Neben der erforderlichen Berufsfeuerwehrausbildung und Leitstellenlehrgängen verfügen die Mitarbeiter über eine Rettungsdienstausbildung - Rettungssanitäter, Rettungsassistent - sowie über eine Qualifikation für Werkschutztätigkeiten, als Fachkraft oder Servicekraft für Schutz und Sicherheit beziehungsweise Werkschutzfachkraft. Als international tätiges Unternehmen versteht es sich von selbst, dass unser Personal auch in englischer Sprache kommunizieren kann. Zur Sicherstellung und Nachweis der Prozessqualität in unserer Leitstelle werden interne Audits durchgeführt, auch in Form von „Test-Anrufen" aus der ganzen Welt.

Zu den Vorsorgemaßnahmen gehört die Abstimmung von Alarm- und Gefahrenab­wehrplänen mit den Gefahrenabwehrbehörden. Ein ganz wichtiger Teilaspekt ist auch ein Nachbarschafts-Informations-System. Wie funktioniert das am Standort Darmstadt und haben Sie mit der neuen NSL auch den Schutz der Bevölkerung verbessert?

Jürgen Warmbier: Unser Nachbarschaftsinformationssystem wird momentan ebenfalls auf den neuesten Stand gebracht. Zukünftig werden wir Teil des Warnsystems der Stadt Darmstadt sein. Umgekehrt bedeutet dies, wir sind ebenfalls Nutzer der öffentlichen Warneinrichtungen. Diese Kooperation mit der Stadt erfolgte mit Zustimmung der zuständigen Behörden und bietet für beide Seiten einen Nutzen. Ich sehe darin einvernünftiges und wirtschaftliches Vorgehen unter Nutzung der Synergien zur Erzielung eines flächendeckenden Warnsystems.

Ihre Hauptabteilung beschäftigt neben Feuer­wehrleuten auch Ingenieure, Fachkräfte und Meister für Schutz- und Sicherheit sowie Rettungsassistenten. Welche Berufe aus dem Sicherheitsbereich beschäftigen Sie außerdem, bilden Sie auch aus - und wo sehen sie zukünftig vermehrten Personalbedarf?

Jürgen Warmbier: Wir sind anerkannte Ausbildungsstätte für Werkfeuerwehrmänner, Rettungssanitäter bzw. Rettungsassistenten. Bei der Entwicklung und Einführung des neuen Ausbildungsberufes „Werkfeuerwehrmann/frau" waren wir von Merck maßgeblich beteiligt. Wir bieten auch die Möglichkeit, sich in dem Ausbildungsberuf „Fachkraft für Schutz und Sicherheit" ausbilden zu lassen. Sofern die Voraussetzungen vorliegen, unterstützen wir auch bedarfsabhängig berufsbegleitende Studiengänge im Securitybereich. Aktuell absolviert eine junge Mitarbeiterin ein Praktikum bei uns, die bereits ihren Bachelor-Abschluss in Security-Management erfolgreich absolviert hat. Zu Ihrer Frage hinsichtlich des Personalbedarfes ist anzumerken, dass unsere Gesellschaft besonders vom demografischen Wandel betroffen sein wird oder vielmehr es bereits ist. In den nächsten Jahren wird ein Wettbewerb um junge, qualifizierte Bewerber sichtbar werden - der sogenannte „War of Talents".

Wie schaffen Sie es eigentlich, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aber auch die Besucher und Lieferanten den vorbeugenden Brandschutz, die Einhaltung von Arbeits- und Unfallschutz sowie Maßnahmen zur vorbeugenden Kriminalitätsbekämpfung ernst nehmen und befolgen?

Jürgen Warmbier: Das Ziel ist der Mensch an sich und sein erwünschtes Verhalten. Die Botschaft muss den Adressaten erreichen. Deshalb gilt es, klare Botschaften zu senden, die jeder versteht und die Gründe dafür plausibel nachvollziehen kann. Besucher sind anzusprechen und aufzuklären, ergänzend werden entsprechende Flyer ausgehändigt. Personen, die sich länger im Werk aufhalten, müssen einen Sicherheitsfilm anschauen und über einen Test nachweisen, dass sie die Inhalte verstanden haben. - Für unsere Mitarbeiter gibt es spezielle Programme zur Sicherheit im Werk. Am Ende funktioniert aber alles nur, wenn auch Konsequenzen bei Nichtbefolgen der Regeln aufgezeigt werden.

Herr Warmbier, vielen Dank für das aufschlussreiche und informative Gespräch!

 

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