Management

Sicherheit und humaner Strafvollzug bedingen einander

Interview mit Yvonne Radetzki, 1. Vorsitzende der Bundesvereinigung der Anstaltsleiterinnen und Anstaltsleiter (BVAJ)

30.11.2023 - Die Bundesvereinigung der Anstaltsleiterinnen und Anstaltsleiter dient dem länderübergreifenden Erfahrungsaustausch und der Mitwirkung bei der Weiterentwicklung des Justizvollzuges. Die Bundesvereinigung führt jährlich länderübergreifende Tagungen durch – zum Erfahrungsaustausch, zur Vermittlung von Informationen und neuen Perspektiven. GIT SICHERHEIT sprach mit Yvonne Radetzki, der ersten Vorsitzenden der Bundesvereinigung.

GIT SICHERHEIT: Frau Radetzki, wir führen dieses Gespräch mit Ihnen sozusagen in doppelter Funktion – nämlich als erste Vorsitzende der Bundesvereinigung der Anstaltsleiterinnen und Anstaltsleiter, aber auch als Leiterin der Justizvollzugsanstalt Neumünster. Können Sie uns zunächst einmal etwas zu der Vereinigung sagen?

Yvonne Radetzki:
Die Bundesvereinigung der Anstaltsleiterinnen und Anstaltsleiter wurde 1971 gegründet. Ihr gehören ca. 300 Mitglieder an. Dies sind in erster Linie Anstaltsleiterinnen und Anstaltsleiter, daneben aber auch weitere Berufsgruppen, die im Justizvollzug tätig sind. Es handelt sich um eine Mitgliedschaft auf freiwilliger Basis, so dass nicht alle Anstaltsleiterinnen und Anstaltsleiter in dieser Vereinigung organisiert sind.


Was sind überschlägig die drängendsten Themen, die Sie mit Ihren Kollegen derzeit im Rahmen dieser Vereinigung diskutieren und besprechen?

Yvonne Radetzki:
Themen die uns derzeit bewegen, sind unter anderem der Umgang und die Behandlung von psychisch auffälligen Inhaftierten, die Arbeitsentlohnung von Inhaftierten nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (Stichwort schlüssiges Resozialisierungskonzept) oder auch die Änderungen des Sanktionsrechts bei den Regelungen zur Ersatzfreiheitsstrafe und Unterbringung in der Entziehungsanstalt. Auch die Digitalisierung in Bezug auf die Inhaftierten ist uns ein Anliegen. Im Rahmen der Resozialisierung müssen die Inhaftierten auch an die neuen Medien und den Umgang mit ihnen herangeführt werden, was naturgemäß in einer Justizvollzugsanstalt als Sicherheitseinrichtung nicht ganz einfach ist.


Lassen Sie uns gleich einmal einen näheren Blick auf das Thema Sicherheit werfen und die Herausforderungen aus dem Blickwinkel von Security und Safety. Zunächst einmal: Wo stehen wir eigentlich aus Ihrer Sicht in der Balance zwischen humanem, auf Prävention und Resozialisierung zielenden, geschlossenem Strafvollzug und der Sicherheit des Gefängnisses und damit auch der Bevölkerung?

Yvonne Radetzki:
Im Strafvollzug unterscheiden wir drei Formen von Sicherheit. Wir haben zum einen die administrativ-organisatorische Sicherheit, die alle Schriftwerke einer Anstalt, die Dinge zur Sicherheit regeln, vereinigt. Dies können Alarm- und Sicherungspläne, Brandschutzordnungen oder die Dienstpläne sein, um nur einige zu nennen. Daneben gibt es die instrumentelle, also baulich-technische Sicherheit. Ganz entscheidend kommt es im Strafvollzug aber auf die soziale Sicherheit an. Dies meint den Schutz vor Folgen verschiedener Ereignisse, die als Risiken charakterisiert sind. Hierunter sind die persönlichen Beziehungen zwischen den in der Anstalt lebenden und arbeitenden Menschen zu verstehen. Das heißt, nur wenn diese Beziehungen nicht nur von Macht und Autorität, sondern auch von gegenseitigem Respekt und Vertrauen geprägt sind, wird soziales Verhalten zwischen diesen Gruppen ermöglicht, begrenzt und beeinflusst. Und dies erreicht man, indem man in soziale Interaktion mit Inhaftierten tritt.


Können Sie mal ein Beispiel nennen?

Yvonne Radetzki:
Ein Bespiel ist dafür unter anderem die folgende Situation: Man kann Inhaftierte in einer Anstalt alleine von A nach B schicken, indem man Zwangswege eröffnet und alles über Videotechnik überwacht. Man kann die Inhaftierten auf ihrem Weg von A nach B aber auch begleiten und damit auf Kameras verzichten. Dies hat zwar den Nachteil, dass ein erhöhter Personaleinsatz notwendig ist, gleichzeitig aber den großen Vorteil, dass man mit dem Inhaftierten ins Gespräch kommt, erfährt was ihn bewegt und eine professionelle Beziehung aufbaut, also gleichfalls – soziale – Sicherheit produziert.

Nur wenn soziale Sicherheit in einer Justizvollzugsanstalt eine große Rolle spielt, kann meines Erachtens auch die Resozialisierung der Inhaftierten gelingen, denn wir als Mitarbeitende der Anstalten sind Vorbild und Anleitende für die Inhaftierten. Und wenn uns die Resozialisierung gelingt, dann gibt es neben den anderen beiden Sicherheitsfaktoren Sicherheit in einer Justizvollzugsanstalt und letztlich auch in der Bevölkerung. Ein humaner Strafvollzug und Sicherheit schließen sich daher nicht aus, sondern bedingen einander.


Große Themen sind Drogen, Extremismus und Gewalt in den Gefängnissen. Wie schätzen Sie die Lage generell ein und wie erleben Sie das in Ihrer eigenen Anstalt?

Yvonne Radetzki:
Eine Justizvollzugsanstalt ist eine totale Institution, die aber nach außen hin nicht undurchlässig ist. Ziel des Vollzuges ist es, den Inhaftierten zu befähigen, künftig ein Leben in sozialer Verantwortung zu führen. Daher ist die Ausgestaltung des Vollzugs so ausgerichtet, dass es für die Inhaftierten ein umfangreiches behandlerisches, schulisches und therapeutisches Angebot gibt. Dieses Angebot ist aber nur möglich, wenn die Anstalten nicht hermetisch abgeschlossen sind.

Die notwendigen Öffnungen nach innen – zum Beispiel Versorgung, Entsorgung, Behandlungsmaßnahmen, Berufsbildungsmaßnahmen, medizinische Leistungen, Besuche usw. – und nach außen – also Ausführungen, Vollzugslockerungen, Kontakterhalt zu Angehörigen oder auch die Wahrnehmung von notwendigen Terminen zur Vorbereitung der Entlassung – werden zwar durch erforderliche Sicherheitsmaßnahmen flankiert. Dennoch kann man nicht ausschließen, dass trotz umfangreicher Sicherungsmaßnahmen unerlaubte Gegenstände in eine Anstalt kommen. Aber gerade wegen der hohen und intensiven Kontrollmaßnahmen werden solche Dinge auch gefunden.

Zum anderen ist die Anstalt eine Einrichtung, in der auf engem Raum viele Menschen zusammenleben, naturgemäß kommt es dort ebenso wie in der Bevölkerung zu Zusammenstößen zwischen Menschen. Sie ist letztlich auch ein Spiegelbild der Gesellschaft. Es gibt dort alle Situationen, die wir auch sonst in der Gesellschaft vorfinden.


Insbesondere von amerikanischen Gefängnissen ist zu hören, dass Insassen nicht selten stark von anderen Insassen bedroht sind. Kann man das mit Gefängnissen in Deutschland vergleichen? Hier kommt auch die Organisierte Kriminalität ins Spiel. Wieweit können kriminelle Aktivitäten vom Gefängnis heraus und von außen hinein gesteuert werden? Mit anderen Worten: Wie durchlässig sind eigentlich die Gefängnismauern?

Yvonne Radetzki:
Die Situation in amerikanischen Gefängnissen kann ich leider nicht beurteilen, denn dort habe ich noch nicht gearbeitet und kann die dortige Lage nicht sicher einschätzen. Wenn es Auseinandersetzungen zwischen Inhaftierten gibt, was aufgrund des engen Zusammenlebens möglich ist, dann ist die Erfahrung, dass meistens beide Seiten ihren Anteil daran haben. Das Handeltreiben mit verbotenen Gegenständen kann zu solchen Bedrohungen führen, eben dann wenn ein Inhaftierter seine „Schulden“ nicht begleicht. Selbstverständlich können auch bestimmte begangene Delikte, deretwegen man eine Freiheitsstrafe verbüßt, dazu führen. Aber mit amerikanischen Verhältnissen ist es wahrscheinlich nicht zu vergleichen, denn ein Schwerpunkt des Strafvollzuges in Europa ist gerade der Behandlungsvollzug. Die Behandlung erfolgt nicht nur durch Behandlungsmaßnahmen im klassischen Sinne, sondern auch durch Arbeit und Ausbildung, durch soziales Training oder auch durch Interaktion mit den Mitarbeitenden der Anstalten, die Vorbild für die Inhaftierten sein sollen.

Was also die Frage nach der Durchlässigkeit betrifft: Es ist aus Behandlungsgründen notwendig, dass die Anstaltsmauern „durchlässig“ sind. Ein Ausfluss dessen ist eben auch, dass den Inhaftierten soziale Kontakte ermöglicht werden. Insofern sind den Inhaftierten Besuche, das Führen von Telefonaten und auch das Versenden und Empfangen von Schreiben möglich.

Kontrollmaßnahmen bestimmen den Alltag und führen dazu, dass verbotene Gegenstände gefunden werden. Aber bestimmte Bereiche erfahren eben auch den Schutz des Grundgesetzes. So ist das Abhören von Telefonaten oder das Mithören bei Besuchen sowie die Inhaltskontrolle des Postverkehrs nur in ganz engen Grenzen möglich und dies bedarf in der Regel der richterlichen Anordnung.


Insbesondere der Einsatz von Drohnen ist ein ­aktuelles Thema. Wie sieht das in der Praxis von Justizvollzugsanstalten aus?

Yvonne Radetzki:
Es gilt ein Überflugverbot von Drohnen über Justizvollzugsanstalten. Wer sich nicht daran hält, begeht eine Ordnungswidrigkeit und kann mit einem Bußgeld belegt werden. Daneben gibt es sicherheitstechnische Systeme, beispielsweise Störsender, die dazu führen sollen, dass die Drohnen nicht in der Lage sind, die Anstalten zu überfliegen. Meines Wissens sind diese aber noch nicht so ausgereift, dass sie immer zuverlässig funktionieren. Auch hier kann die bauliche Sicherheit durch den Einbau von Feinvergitterung vor den Haftraumfenstern ein gutes Ergebnis liefern.


Welche Rolle spielen eigentlich innovativere ­technische Entwicklungen – Stichwort Biometrie oder Robotik, aber auch Videotechnologie mit ihren intelligenten Funktionalitäten?

Yvonne Radetzki:
Die von Ihnen genannten Dinge sind solche, die in der Regel der technischen Sicherheit zuzuordnen sind. Biometrie und Robotik wird meines Wissens nach in noch keiner deutschen Justizvollzugsanstalt eingesetzt. Videotechnologie ist seit vielen Jahren vorhanden.


Es gibt ja Projekte, die einen eventuellen Nutzen von Künstlicher Intelligenz für die Suizid- und Gewalt­prävention untersuchen. Wie sehen Sie das Thema?

Yvonne Radetzki:
Noch ist die Künstliche Intelligenz nicht gängige Praxis in den deutschen Justizvollzugsanstalten. Gleichwohl gibt es erste Forschungsprojekte zu diesem Thema. Künstliche Intelligenz könnte dabei Überwachungsbilder auswerten, die auf eine erhöhte Suizidgefahr hindeuten. Auffällige Verhaltensweisen wie Bewegungsmuster oder der Einsatz bestimmter Hilfsmittel würden zu Situationsbeschreibungen führen, aufgrund derer das Suizidrisiko eingestuft werden könnte oder eben auch der Einsatz von Gewalt vorhersehbar wäre.
Aber auch hier ist es genauso wichtig, dass wir mit den Inhaftierten sprechen und versuchen, uns selbst ein Bild von der Situation zu machen. Die KI kann die notwendige Einschätzung, die wir vornehmen müssen, nicht voll und ganz übernehmen. Es steht zu erwarten, dass auch bei der KI ein gewisses Restrisiko verbleibt und auch diese nicht gänzlich jede Situation verhindern kann. Und möglicherweise kann durch die persönliche Ansprache gerade das Risiko eines Suizides gesenkt werden. Dies vermag die KI gerade nicht zu leisten.


Inwieweit können Sie von Erfahrungen in anderen Ländern profitieren? Es gibt ja zum Beispiel die ­europäische Expertengruppe Europris?

Yvonne Radetzki:
Die Föderalismusreform im Jahre 2006 hat dazu geführt, dass die Regelungskompetenz für den Justizvollzug auf die Länder übergegangen ist. Einen länderübergreifenden Erfahrungsaustausch ermöglicht die Bundesvereinigung der Anstaltsleiterinnen und Anstaltsleiter.

Aber auch Erfahrungen in ganz Europa können für den deutschen Justizvollzug hilfreich sein. Europris kann hierzu einen guten Beitrag leisten, indem diese europäische internationale Organisation einschlägige vollzugsbezogene Informationen aller Mitgliedsländer sammelt und bereitstellt und Mitarbeiter im Vollzug mit Expertise versorgt, die Mitarbeiter miteinander in das Gespräch bringt und den Austausch unterstützt und begleitet.

Die diesjährige Tagung der Bundesvereinigung der Anstaltsleiterinnen und Anstaltsleiter in Bremen stand unter dem Motto „Strafvollzug im europäischen Kontext“ und hat sich gerade auch mit länderübergreifenden Organisationen beschäftigt.


Sicherheitskonzepte verändern sich in allen Lebensbereichen vor allem durch Digitalisierung. Wie sieht das in der Praxis der Sicherheit in Gefängnissen aus?

Yvonne Radetzki:
Selbstverständlich nimmt die Digitalisierung auch auf die Sicherheitskonzepte in den Justizvollzugsanstalten Einfluss. Es wäre vermessen zu behaupten, dass dies anders wäre. Wichtig ist in diesem Zusammenhang aber, dass das Sicherheitskonzept immer nur so gut sein kann, wie der Mensch, der hieran mitgewirkt hat. Insofern ist es gerade bei zunehmender Digitalisierung gerade in einer Justizvollzugsanstalt wichtig, dass wir immer noch selbst unsere Sinne nutzen, aufmerksam bleiben, und uns nicht nur auf die Technik verlassen.


Wie verhält es sich mit der Sicherheit der Mitarbeiter in der JVA. Immerhin gibt es eine nicht unerhebliche Zahl von Fällen, in denen Bedienstete tätlich angegriffen werden? Welche Strategien gibt es diesbezüglich?

Yvonne Radetzki:
Angriffe auf Bedienstete sind glücklicherweise noch nicht alltäglich. Es ist aber von einer – zumindest gefühlten – Zunahme auszugehen. Die Gründe hierfür mögen vielfältig sein, von Sprachbarrieren und sich nicht verstanden fühlen bis hin zu Kriegstraumatisierungen oder psychischen Auffälligkeiten. In den meisten Fällen sind dies die Gründe.

Wichtig ist auch im Umgang mit diesen Fällen ein ausgewogenes Maß zwischen erlernten Einsatztechniken und persönlicher Schutzausrüstung, sowie von Deeskalationsstrategien, die die Bediensteten beherrschen müssen. Unerlässlich ist aber auch hier eine stete Analyse, warum es überhaupt zu solchen Situationen gekommen ist. Nur daraus können wir lernen, wie schwierige Situationen noch besser bereits im Vorfeld erkannt und vielleicht in dem ein oder anderen Fall vermieden werden.

Gründe können mangelnde Sprachkenntnisse, Unverständnis von der tatsächlichen Situation, gepaart mit Angst auf Seiten des Inhaftierten sein. Hier können Dolmetscher helfen, dem Inhaftierten die Situation zu erklären. Es können aber auch echte psychiatrische Erkrankungen oder erlebte Kriegstraumata dahinterstehen. Gerade im Umgang mit diesem Gefangenenklientel können wir sicherlich noch besser werden, indem die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter noch besser auch im Erkennen psychiatrischen Erkrankungen geschult werden und wir den Anstalten auch ausreichend Fachpersonal, z. B. Psychiater, zur Verfügung stehen.


Frau Radetzki, eine Justizvollzugsanstalt zu leiten ist eine verantwortungsvolle Aufgabe schon aus der Perspektive der Ziele des Strafvollzugs aus. Das ist sicherlich kein Job wie jeder andere – auch weil man nicht nur mit den angenehmsten Menschen zusammenkommt. Gibt es so etwas wie eine persönliche Philosophie oder Haltung, mit denen Sie Ihr Amt ausführen?

Yvonne Radetzki:
Zunächst einmal ist ganz wichtig, dass man daran glaubt, dass auch Menschen mit schwierigen Lebensbiographien und begangenen Straftaten noch eine Chance haben und durchaus ein Leben ohne die weitere Begehung erneuter Straftaten führen können. Daraus resultiert in der Regel der Wille anderen Menschen helfen zu wollen. Für unerlässlich halte ich dabei ein ausreichendes Maß an Frustrationstoleranz, schwierige Situationen zu überstehen, wenn es einmal nicht erfolgreich ist.

Als Leiterin einer Justizvollzugsanstalt ist es mir darüber hinaus aber auch wichtig, den Mitarbeitern ein gutes Vorbild zu sein und auch für deren Anliegen und Probleme immer auch ein offenes Ohr zu haben, damit diese ausreichende Unterstützung erfahren. Dies alles geht nur, wenn man gleichzeitig nach Feierabend und in der Freizeit auch gut abschalten und loslassen kann, um auf diese Weise wieder neue Energie zu sammeln.


Frau Radetzki, herzlichen Dank für das Gespräch.

Kontakt