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Normgerechte Alarmierung bei Amokläufen - wann gilt welche Norm

23.04.2012 - Seit den Amokläufen in Winnenden und Erfurt hat das Thema in der ­Sicherheitstechnik einen erheblichen Stellenwert erlangt. Von vielen ­Seiten werden technische Lösungen angefragt,...

Seit den Amokläufen in Winnenden und Erfurt hat das Thema in der ­Sicherheitstechnik einen erheblichen Stellenwert erlangt. Von vielen ­Seiten werden technische Lösungen angefragt, um zukünftig bei derartigen Situationen einen besseren Schutz gewähren zu können. Vor ­diesem
Hintergrund stellt sich auch die Frage, welchen Richtlinien und ­Normen diese technischen Lösungen genügen müssen. Ein Beitrag von Wolfgang
Unger, Produktmanager im Bereich Sprachalarmierung bei Novar.

Welchen normativen Anforderungen müssen sicherheitstechnische Lösungen genügen, wenn es um Alarmierung und Schutz bei Amokläufen geht? Bei der Beantwortung dieser Frage herrscht allgemeine Unsicherheit, so dass mancher die Meinung vertritt, es müssten erst entsprechende Normen entwickelt werden. Dem ist jedoch nicht so. Ein Amokfall kann bereits mit bestehenden Normen abgedeckt werden.

EN 60849 einschlägig
Die europäische Norm EN 60849 für „elektroakustische Notfallwarnsysteme" ist ohne weiteres auch auf Amokläufe anwendbar. Das zeigt bereits der Wortlaut dieser Norm, und es entspricht auch dessen Zweck. Dort heißt es unter „Anwenungsbereich und Zweck" sinngemäß:

Findet in einem Gebäude ein Amoklauf statt, liegt eindeutig ein Notfall vor. Geht es also in einer solchen Situation um die Alarmierung der im Gebäude befindlichen Personen mit Sprachmeldungen mit Hilfe von Schallverstärkungs- und -verteilungssystemen, ist die Norm also schon vom Wortlaut her anwendbar.

Geltung auch ohne „Räumung"?
Gegen die Geltung der EN 60849 für Amokläufe wird nun teilweise ins Feld geführt, dass es dort heiße, dass Personen im Gebäude durch die Alarmmeldung veranlasst werden sollen, diesen Bereich schnell und geordnet zu räumen - während Notfall- und Rettungspläne für Amokfälle auch vorsehen können, dass die Menschen im Gebäude bleiben und sich dort verbarrikadieren sollen.

Diese Notfall- und Rettungspläne sind jedoch nicht Inhalte einer allgemein anwendbaren Norm, sondern werden z. B. in Abhängigkeit von Gebäudebeschaffenheit, Anzahl und Mobilität der im Gebäude befindlichen Personen oder ähnlichen Parametern ganz konkret und objektspezifisch entwickelt. Die Norm gibt lediglich die Eigenschaften und Prüfverfahren an, die für die Beschreibung des Systems erforderlich sind. Es werden also in der Norm ausschließlich die technischen Eigenschaften des Systems beschrieben und nicht die Verhaltensweisen der Personen im Notfall.
Der Passus in der EN 60849, der beschreibt, dass Personen durch die Alarmmeldung veranlasst werden sollen, diesen Bereich schnell und geordnet zu räumen, steht folglich der Anwendung im Amokfall nicht entgegen.

Ist die Norm noch zeitgemäß formuliert?
Die Tatsache, dass dieser Passus bezüglich des Verlassens des Gebäudes in der Norm enthalten ist, ist für eine Norm, die technische Sachverhalte beschreibt, eher unüblich, jedoch durch die Historie der Norm zu erklären: Die EN60849 trat im Jahr 1998 auch unter der Bezeichnung DIN VDE 0828 in Kraft und wurde zu diesem Zeitpunkt für alle Notfallsituationen - auch für den Brandfall - angewendet. Der Brandfall machte im Hinblick auf die Häufigkeit der Notfallsituationen den mit Abstand größten Teil aus. Es ist unbestritten, dass im Brandfall ein Gebäude bzw. ein Bereich schnell und geordnet geräumt werden muss. Somit war eine Aufnahme dieses Passus zu diesem Zeitpunkt schlüssig.

Mit Inkrafttreten der DIN VDE 0833-4 für „Anlagen zur Sprachalarmierung im Brandfall" im September 2007 hat sich die Situation dann grundlegend geändert. Sprachalarmanlagen, die automatisch von einer Brandmeldeanlage angesteuert werden, müssen seit diesem Zeitpunkt nach DIN VDE 0833-4 geplant und aufgebaut werden. Die EN60849 gilt seit diesem Zeitpunkt ausschließlich für alle anderen Notfallsituationen.
Zum jetzigen Zeitpunkt muss daher die Frage gestellt werden, ob der Passus in der EN60849, der auf eine schnelle und geordnete Räumung des Gebäudes hinweist, noch zeitgemäß ist, da neue, damals nicht berücksichtigte Notfallsituationen (z. B. Amok), hinzugekommen sind. Man sollte im Arbeitskreis des DIN, der derzeit die EN60849 in die EN50849 überarbeitet, darüber nachdenken, zukünftig auf diesen Passus zu verzichten, um damit letzte Unsicherheiten bezüglich der Anwendung der EN60849 auf den Amokfall auszuräumen und so eine Anpassung an die aktuellen Gegebenheiten vorzunehmen.

Ein „elektroakustisches Notfall­warnsystem" nach EN60849
Nun stellt sich die Frage, wie es bezüglich der Normung zu bewerten ist, wenn eine Sprachalarmanlage nach DIN VDE 0833-4 zusätzlich zur Amokalarmierung eingesetzt werden soll. Gemäß der DIN VDE 0833-4:2007-09, Kapitel 7.1.4.8. darf die Sprachalarmanlage im „Nicht-Brandfallbetrieb" für andere Anwendungen genutzt werden. Hierdurch würde einer Nutzung der Sprachalarmanlage für eine Amokalarmierung im „Nicht-Brandfallbetrieb" nichts entgegenstehen.

Im Vergleich mit der EN60849 sind die technischen Anforderungen der DIN VDE 0833 - 4 in vielen Punkten identisch, gehen manchmal auch noch darüber hinaus. So werden in wesentlichen Belangen (z. B. bezüglich der Sprachverständlichkeit und des Schallpegels) in beiden Normen die gleichen Anforderungen an die Systeme gestellt; in gewissen Punkten (z. B. bezüglich der Notstromüberbrückungszeit) sind die Anforderungen der DIN 0833 - 4 höher. So muss bei einer Anlage nach EN60849 der Notstrombetrieb für 24 Stunden plus 30 Minuten Alarmierung gewährleistet sein, während bei einer Anlage nach DIN VDE 0833 - 4 ein Notstrombetrieb für 30 Stunden plus 30 Minuten Alarmierung gefordert wird.

Kritische Situationen
Somit kann eine Sprachalarmanlage nach DIN VDE 0833 - 4 zusätzlich für eine Amokalarmierung genutzt werden. Hierbei sind jedoch bezüglich der Notfall- und Rettungsplanung eine Reihe kritischer Situationen zu beachten: Wie soll z. B. reagiert werden, wenn während eines Amokalarms ein Feuer gemeldet wird? Wie soll einer möglichen Situation begegnet werden, wenn z. B. ein Amokläufer Brandsätze und Schusswaffen verwendet?
Die Abläufe für solche Situationen können nicht allgemeingültig in einer Norm beschrieben werden, die technische Anforderungen an ein System beschreibt. Verfahrensabläufe, die zudem noch für jedes Objekt, in Abhängigkeit der örtlichen Gegebenheiten unterschiedlich sein können, sind gesondert zu betrachten.

Bezüglich der Anforderungen an die Technik sind - wie bereits beschrieben - durch Anlagen gemäß EN60849 oder VDE0833- 4 normgerechte Lösungen vorhanden. Mittels Alarmierung durch automatische Sprachmeldungen oder Mikrofondurchsagen nach EN60849 oder VDE0833- 4 können entsprechende Abläufe der Notfall- und Rettungsplanung in geeigneter Weise unterstützt werden. Voraussetzung für eine erfolgreiche Umsetzung des Konzepts ist jedoch eine sinnvolle Notfall- und Rettungsplanung, die optimal auf das jeweils zu betrachtende Objekt zugeschnitten ist.