Brandschutz

Rettungsweg am Scheideweg?

Oder: Der Einfluss von Erkenntnis und Nichterkenntnis auf die Selbstrettung

12.05.2010 - Unser Interview mit Prof. Dipl.-Ing. Reinhard Ries, Direktor der Branddirektion in Frankfurt am Main. Für die Leser von GIT-SICHERHEIT.de stellte Jörn Jacobs die Fragen.
Jedem ist...

Unser Interview mit Prof. Dipl.-Ing. Reinhard Ries, Direktor der Branddirektion in Frankfurt am Main. Für die Leser von GIT-SICHERHEIT.de stellte Jörn Jacobs die Fragen.

Jedem ist klar, dass nicht einmal die Berufsfeuerwehr „im Moment der Brandmeldung" vor Ort sein kann. So gibt z. B. die Berufsfeuerwehr Frankfurt auf der Website an, dass ihre Standorte so verteilt seien, um jeden Brand innerhalb von zehn Minuten (!) erreichen zu können. Doch selbst einige Minuten können unter dem Gesichtspunkt Rauchvergiftung schon entscheidend für Betroffene sein. Daher sollte man annehmen, dass die Selbstrettung höchsten Stellenwert genießen müsste.

GIT-SICHERHEIT.de: Nach Aussage der obersten Bauaufsicht rückt die Sicherheit von Rettungswegen in den Fokus. Wie schätzen Sie diese ­Situation ein?

Prof. R. Ries: Das aktuelle Papier ist vom Grundsatz zu akzeptieren, aber in der Auslegung strittig. Es soll zur Klarstellung dienen, was in den Baugesetzen geregelt wird. Interessanterweise ist die Feuerwehr zum Thema Retten nicht mehr vertreten. So bekommt selbst der Fachmann den Eindruck, dass die Feuerwehr nur noch zum Löschen da sei und keine Verletzten mehr rette, diese Frage wurde mir schon direkt gestellt. Natürlich aber rettet die Feuerwehr Personen, die sich nicht selbst retten können, doch primär geht es im Grundsatzpapier richtigerweise um die Selbstrettung. Der Betreiber eines Gebäudes ist eigenverantwortlich für die Selbstrettung, also dass möglichst alle Personen im Brandfall unbeschadet das Gebäude verlassen können. Dazu muss ein Rettungsweg frei von Feuer und Rauch, gut auffindbar und er darf nicht zu lang sein. Das Papier sieht keine Rauchableitung aus den Rettungswegen mehr vor, da der Rettungsweg baulich von Rauch freizuhalten ist. Das sieht in der Praxis anders aus: Durch offen gelassene Türen entsteht sehr oft eine Verrauchung, die mehr oder weniger die Selbstrettung behindert. Auch in Sonderbauten hat die Sicherheit der Menschen oberste Priorität. Es gibt daher ein Brandfallmanagement, das für das Vorgenannte sorgen soll über optisch/akustische Alarme, Durchsagen, Rettungswegzeichen und Notbeleuchtung. Wir wissen aus Erfahrung, dass der Rettungsweg die Kenngröße zur Menschenrettung schlechthin ist, nur: über 90 % aller Gebäude sind eben keine Sonderbauten und das bei 300.000 Brandfällen pro Jahr in Deutschland.

Der Kostendruck, der auf Errichter, Betreiber oder Vermieter eines Gebäudes liegt, führt häufig auch bei den Rettungswegen zum Einsatz des „billigsten" Produktes, wobei die Deregulierung diesem Aspekt noch Vorschub leisten wird.

Prof. R. Ries: Im Prinzip ist gegen Globalisierung und Deregulierung zur Kostensenkung nichts einzuwenden, doch bei Dingen, auf die es ankommt, ganz besonders wenn es um Menschenleben geht, müssen gewisse Regeln bleiben. Für jedes Auto sind trotz des internationalen Wettbewerbs Sicherheitsstandards definiert, um die niemand herum kommt. Anders liegt es im Baubereich, wo es in den ersten Sonderbauvorschriften bereits wieder eine Gegentendenz gibt, wie die Erlaubnis, dass Kopierer und Drucker im Fluchtweg stehen dürfen - Hindernisse, von denen noch dazu eine Brandgefahr ausgeht. Was den Punkt „billigstes Produkt" betrifft: Ich kann nur jedem Architekten und Fachplaner anraten, nicht nach dem billigsten Produkt, sondern nach dem mit dem besten Preis-Leistungsverhältnis zu schauen, denn er trägt die Verantwortung. Das gilt gleichermaßen für verwendete Baumaterialien und technische Einrichtungen wie Rauchabzugsanlage, Brandmeldesystem, Rettungswegbe­schil­derung/-beleuchtung und Sprinkleranlagen.

Sie geben Ihre Empfehlung an Architekt und Fachplaner. Nach aktueller Rechtslage trägt doch der Betreiber die Verantwortung?

Prof. R. Ries: Der Bauherr oder Betreiber muss sich für Normeinhaltung und Qualitätszusicherung auf Architekt und Fachplaner verlassen, da ihm im Normalfall die Kompetenz zur Prüfung fehlt. Würde es „im Falle eines (Brand-)Falles" zur gerichtlichen Auseinandersetzung kommen, würde der Bauherr/Betreiber auf Architekt und Fachplaner verweisen und die Verantwortung überwälzen. Während generell im Baubereich nach 5 Jahren die Gewährleistung abläuft, gilt das für den Brandfall nicht. Diese Verantwortung bleibt dauerhaft bestehen. Aufgrund der strafrechtlichen Relevanz erwarte ich eigentlich, dass ein Fachplaner den Brandschutz, insbesondere den Fluchtweg, sehr ernst nimmt.

Wir sehen, dass sich der Bauherr auf seinen Fachplaner/Architekten verlassen muss - aber auch der Fachplaner kann ja nicht jedes Produkt für den lebensrettenden Bereich prüfen und sich von dessen Qualität überzeugen.

Prof. R. Ries: Ganz besonders kritisch ist das bei Rettungswegeleuchten aller Art, wie sie millionenfach in „normalen" deutschen Bürogebäuden, Werkstätten, Gastronomiebetrieben und vielen weiteren zu finden sind. Hier haben die großen Hersteller beschlossen, keine Prüfung ihrer Produkte durch externe Institute durchführen zu lassen, sondern sich nur selbst zu zertifizieren. Sie selbst bestätigen, dass ihre Produkte normenkonform und qualitativ einwandfrei seien. Für die Verweigerung der Drittzertifizierung werden die Kosten als Grund ins Feld geführt. Das erscheint mir nicht haltbar, denn bei vielen anderen, z. B. Elektrogeräten, die ebenso Millionenstückzahlen erreichen, geht Drittzertifizierung doch auch?! Was für die Brandmeldeanlagen, Rauchmelder und Sprinkler gilt, muss für die Sicherheitsleuchten auch gelten. Im Grunde müsste man aus rechtlicher Sicht fast konstatieren, dass ein Gebäude mit „vom-Hersteller-selbst-zertifizierten" Rettungswegeleuchten eigentlich illegal betrieben wird.

Sie haben mit den Rettungswegeleuchten oder „Rettungszeichenleuchten" einen besonders krassen Fall aufgezeigt. Gibt es denn gar nichts, worauf sich Bauherr, Betreiber, Fach­planer und Architekt verlassen können?

Prof. R. Ries: Wissen und Know-how bei allen Beteiligten können Abhilfe schaffen. Natürlich: nur wenn es durch Information gelingt, Zustände wie die „Selbst-Zertifizierung" dem Betroffenen gegenüber aufzudecken, versetzt man ihn in die Lage, anders zu recherchieren und möglicherweise Produkte zu finden, die doch dritt-zertifiziert und qualitativ hochwertig sind. So kann man der Verantwortung gerecht werden, denn die Erfahrung zeigt: Der markante Fall ist der Brandfall und es brennt statistisch gesehen irgendwann in jedem Gebäude.

Herr Professor Ries, wir danken für das ­Gespräch.

 

Ergänzende Literatur: Das Grundsatzpapier der Fachkommission Bauaufsicht „Rettung von Personen und wirksame Löscharbeiten - bauordnungsrechtliche Schutzziele mit Blick auf die Entrauchung" - finden interessierte Leser unter folgendem Link: http://bit.ly/9BC5A4