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Bundeslagebild Wirtschaftskriminalität 2021

11.10.2022 - Ein Beitrag von Min. Dir. a. d. Reinhard Rupprecht zum aktuellen Bundeslagebild Wirtschaftskriminalität des BKA.

Am 30. Juni 2022 hat das BKA das Bundeslagebild Wirtschaftskriminalität 2021 veröffentlicht. Dominiert wird die registrierte Wirtschaftskriminalität vom Betrug. Immer wieder wird über betrügerische Skandale in der Wirtschaft berichtet, die meist von hochrangigen Managern großer Unternehmen begangen, geduldet oder durch mangelhafte Kontrolle verschuldet wurden. Sie fügen dem Unternehmen, seinen Beschäftigten, Partnern und Kunden hohe Schäden zu und erschüttern das Vertrauen in eine nach ethischen Grundsätzen mit wirksamem Compliance-Management geführte Wirtschaft. Ein Bericht zum Bundeslagebild – einschließlich einiger kritischer Anmerkungen – von Min. Dir. a. d. Reinhard Rupprecht.

Seit acht Jahren beschäftigt die Medien, die Öffentlichkeit, die Justiz und die Verbraucher der Abgasskandal. Im September 2015 wurde berichtet, dass Volkswagen eine illegale Abschalteinrichtung in der Motorsteuerung ihrer Dieselfahrzeuge verwendete, so dass die in den USA gültigen Abgasgrenzen auf dem Prüfstand unterschritten, aber auf der Straße überschritten wurden. Die ursprüngliche VW-Abgasaffäre weitete sich zu einer Krise in der gesamten Automobilindustrie aus. Viele Käufer fühlten sich betrogen. Insgesamt waren weltweit fast elf Millionen Dieselfahrzeuge betroffen. Bereits 2011 soll ein VW-Techniker den damaligen Leiter der Aggregatentwicklung gewarnt haben.

Eine Untersuchungskommission des BMVI und ein Untersuchungsausschuss des Bundestages wurden zur Aufarbeitung des Abgasskandals eingesetzt. VW wurde in Deutschland zur Zahlung einer Geldbuße von 1 Milliarde Euro verpflichtet, andere Autobauer (Porsche, Audi, Daimler und BMW) zu insgesamt ca. 2,2 Milliarden Euro. In den USA betrug die Strafzahlung für VW 4,3 Milliarden US-$ und beliefen sich die gesamten Schadenersatzzahlungen auf 15 Milliarden, weltweit auf 32 Milliarden US-$. Die Reputation und Glaubwürdigkeit der deutschen Autoindustrie nahm hohen Schaden.


Wirecard: Milliarden-Betrug

Der Zahlungsabwickler und Finanzdienstleister Wirecard mit einem Jahresumsatz (2018) von 2 Milliarden Euro und einer damaligen Marktkapitalisierung von etwa 16 Milliarden Euro – im Vergleich zum Wert der Deutschen Bank mit 14 Milliarden Euro – meldete im Juni 2020 Insolvenz an, nachdem bekannt geworden war, dass in der Bilanz 1,9 Milliarden Euro „fehlten“. Etwa ab 2008 waren Vorwürfe gegen Geschäftspraktiken und die Unternehmensführung geäußert worden. Die Verdachtshinweise nahmen beständig zu, ebenso wie die strafrechtlichen Ermittlungen. Vor allem die Financial Times erhob immer wieder den Vorwurf der Bilanz- und Aktienkursmanipulation. Im Juni 2020 erstattete die BaFin Anzeige wegen des Verdachts auf Marktmanipulation gegen den Vorstandsvorsitzenden Markus Braun und drei weitere Vorstandsmitglieder.

Wirecard gestand schließlich ein, dass die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young (EY) für 2019 keinen ausreichenden Nachweis über die Existenz von Bankguthaben auf Treuhandkonten in Höhe von 1,9 Milliarden Euro ermitteln konnte. Braun und zwei weitere Manager wurden festgenommen und beschuldigt, seit 2015 Einnahmen vorgetäuscht und Verluste verschleiert zu haben. Gegen den flüchtigen Vorstand Jan Marsalek wurde ein Haftbefehl erwirkt. Nach Berichten in der FAZ am 18. und 20. Mai 2022 hat sich die Allianz-Tochtergesellschaft Allianz Global Investors schuldig bekannt, Fondsmanagern nicht genügend „auf die Finger geschaut“ zu haben. Einer von ihnen soll Risikoberichte für die Fonds manipuliert haben. In einem Fall habe er in einem Szenario für einen Börsencrash einen möglichen Verlust von 42,15 % einfach auf 4,15 % verkürzt. Die Allianz sei bereit, eine Strafe von 2,33 Milliarden US-$ zu zahlen und die Anleger mit 3,24 Milliarden für verlorenen Einsatz zu entschädigen. 463 Millionen würden zugunsten der Staatskasse eingezogen. In einem separaten Vergleich zahle die Allianz 675 Millionen an die Wertpapieraufsicht SEC.


Cum-Ex-Manipulationen

Auch der Staat ist oft Opfer von Betrugsskandalen. Das gilt etwa für die sogenannten Cum-Ex- und Cum-Cum-Manipulationen. Anleger lassen sich eine einmal gezahlte Kapitalertragsteuer auf Aktiendividenden mehrfach erstatten. Sie verschieben mit Hilfe von Banken um den Stichtag der Dividendenzahlung herum untereinander Aktien mit (cum) und ohne (ex) Dividendenanspruch. Banken schalten dabei durch „Leerkäufe“ auch ausländische Banken ein. Dem Staat gehen dadurch Milliardenbeträge an Steuern verloren. Allein die Warburg-Bank musste wegen Beteiligung an Cum-Ex-Geschäften 176 Millionen Euro an die Staatskasse zahlen.

Der BGH hat in einem Grundsatzurteil vom 28. Juli 2021 Cum-Ex-Geschäfte als strafbare Steuerhinterziehung gewertet. Die Reputation der Banken hat unter diesen Manipulationen schweren Schaden genommen. Für manche große Investmentbank sind nach Überzeugung des Justizministers von NRW Peter Biesenbach (im Interview mit der FAZ am 22. Februar 2022) betrügerische Steuerspargramme wie Cum-Ex, „Delta one“ oder „Tax-Trade“ Haupteinnahmequelle. Allein in Köln seien aktuell weit über hundert Verfahrenskomplexe gegen mehr als 1.300 Bankmanager anhängig. Nach einer Meldung im Handelsblatt am 8. Juni 2022 wird der Aufsichtsratsvorsitzende von HSBC Deutschland zusammen mit mehr als 20 Personen aus dem Umfeld der Bank der schweren Steuerhinterziehung beschuldigt.


Bundeslagebild Wirtschaftskriminalität 2021

51.260 Fälle der Wirtschaftskriminalität wurden vom BKA 2021 registriert. Das sind über 35 % weniger als vor zehn Jahren, aber gegenüber dem Vorjahr ist es ein Anstieg von 4,2 %. Der durch diese Kriminalität angerichtete Schaden wurde auf 2.441 Millionen Euro geschätzt (19 % weniger als 2020). Das ist ein Viertel des in der PKS registrierten monetären Gesamtkriminalitätsschadens. Die Aufklärungsquote (AQ) ist mit 89 % so hoch, weil es sich um sogenannte Kontrollkriminalität handelt. Die Verwendung des Tatmittels Internet zur Tatbegehung nimmt seit 2019 zu (Anstieg bis 2021 um fast 100 %). Das Bundeslagebild 2021 verzeichnet 33.434 Betrugsfälle (Anstieg gegenüber 2020 um über 20 %), 6.892 Insolvenzdelikte (20 % weniger), 4.671 Anlage- und Finanzierungsdelikte (- 12 %), 1.068 Wettbewerbsdelikte (- 6 %), 4.678 Arbeitsdelikte (- 25 %), 4.244 Betrugs- und Untreuefälle bei Kapitalanlagen (- 12 %) und 11.328 Fälle des Abrechnungsbetrugs im Gesundheitswesen (fast 200 % mehr als 2020). Im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie ist 2020 und 2021 der Subventionsbetrug massiv angestiegen. 7.260 Fälle wurden 2021 ermittelt (2019: 318).


Kritik am Bundeslagebild

Leider bildet das Bundeslagebild nur einen Teil der Wirtschaftskriminalität ab. Wirtschaftsstraftaten, die unmittelbar von Staatsanwaltschaften, von Finanzbehörden oder Zollbehörden ermittelt werden, sind im Lagebild nicht erfasst. Das gilt etwa für die Produktpiraterie, die viele Branchen belastet. Insbesondere auf dem Autoersatzteilemarkt bieten immer mehr Kriminelle immer mehr gefälschte Ersatzteile auf immer mehr Plattformen an.

Nach einem am 7. März 2020 veröffentlichten Bericht von Europol und des EU-Amtes für geistiges Eigentum floriert in der Corona-Pandemie der Handel mit Produktfälschungen – größtenteils aus Asien –, die der Gesundheit schaden können, aber auch mit Fälschungen aus den Bereichen Elek-tronik, Kleidung, Spielzeug und Kosmetik. Zunehmend wird die Tendenz sichtbar, dass in der EU ansässige kriminelle Netzwerke gefälschte Halbfertigprodukte importieren und dann im Binnenmarkt zusammenfügen.

Nach einer am 22. Juli 2022 veröffentlichten repräsentativen Umfrage von EY hat jeder Dritte in Deutschland schon einmal gefälschte Markenprodukte gekauft. Die PKS erfasst 2021 insgesamt 9.764 Verdachtsfälle von Straftaten gegen das Urheberrecht, davon 1.752 Verstöße gegen das Markengesetz. Arbeitsdelikte ermittelt die Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) des Zolls. Sie hat 2021 über 120.300 Straftaten (15 % mehr als 2020) und rund 32.500 Owi-Verfahren wegen Schwarzarbeit eingeleitet. Der ermittelte Schaden betrug fast 800 Millionen Euro. Auch die von den Finanzbehörden ermittelte Steuerhinterziehung ist im Bundeslagebild Wirtschaftskriminalität nicht enthalten.

Nicht erfasst, obwohl sie im weiteren Sinne – auch nach der Definition entsprechend dem Straftatenkatalog des § 74c Abs. 1 Nrn. 1 bis 6b GVG – zur Wirtschaftskriminalität gehören, sind zum Beispiel:

  • Computerbetrug (2021: 113.00 Fälle; AQ: 30,8)
  • Geldwäschedelikte (14.785; AQ: 72 %)
  • Verletzung von Geschäftsgeheimnissen (217)
  • Bestechlichkeit und Bestechung im Geschäftsverkehr (358; AQ: 92,7 %).

Realistischer und effizienter wäre ein Bundeslagebild Wirtschaftskriminalität, das sich weder an den Ermittlungsorganen noch an der Definition des § 74c GVG noch an dem Tatursprung wirtschaftlicher oder vorgetäuschter wirtschaftlicher Betätigung orientieren würde, sondern auf das Unternehmen oder den selbständigen Unternehmer als Opfer der Kriminalität bezöge (Reinhard Rupprecht, Wirtschaftskriminalität – ein interpretationsbedürftiges Phänomen, in DSD 1-2022, S. 42/43). Denn ein kriminalistisch-kriminologisches Lagebild sollte vor allem das Ziel erreichen, die Betroffenen von der gesamten Bedrohungssituation zu informieren und zur Prävention zu motivieren. Ein solches Lagebild könnte auch den gesamten Schaden bilanzieren, der durch kriminelle Angriffe auf Wirtschaftseinheiten verursacht wird. Und es wäre kompatibel zur Zielrichtung der Initiative Wirtschaftsschutz der vier Bundessicherheitsbehörden BfV, BKA, BND und BSI zusammen mit den Partnerverbänden BDI, DIHK, ASW und BDSW.


Trends und Prognose

Die Kriminalität befindet sich der technologischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung entsprechend in einem Strukturwandel, teilweise weg von der physischen und hin zu betrugs-, täuschungs- und fälschungsorientierten Kriminalität und insbesondere zu dem durch Anonymität begünstigten Cybercrime. In diesem Rahmen wird die Wirtschaftskriminalität im engeren Sinne weiterhin – wenn auch nur leicht – zunehmen. Dazu trägt auch die Regulierungsintensität der EU und ihrer Mitgliedstaaten bei, weil dadurch die Normierung von Straftatbeständen gerade im Wirtschaftsbereich kontinuierlich ansteigt. Die in der drohenden Rezessions- und Inflationsphase zunehmende Subventionierung von für die Versorgung der Bevölkerung wichtigen, von drastischen Umsatzrückgängen und Insolvenzen betroffenen Unternehmen wird den Subventionsbetrug weiter antreiben. Fälschungskriminalität wie Produktpiraterie werden zunehmen, mindestens solange die Corona-Pandemie anhält.


Abwehr von Wirtschaftskriminalität

Grundsätzliche Möglichkeiten der Abwehr von Wirtschaftskriminalität im Unternehmen sind in der Ausgabe 9/2021 der GIT SICHERHEIT (Reinhard Rupprecht, Vertrauensbrüche, S. 10-13) dargelegt worden. Für die Verhinderung wirtschaftskrimineller Verstöße aus dem eigenen Unternehmen heraus ist die Compliance-Funktion von großer Bedeutung. Sie sollte, da solche Verstöße oft in Führungsetagen begangen werden, möglichst in der Geschäftsführung/ im Vorstand des Unternehmens angesiedelt sein. Gerade weil immer mehr Wirtschaftsdelikte unter Missbrauch des Internets begangen werden, spielt die IT-Sicherheit eine immer größere Rolle. Sie tut auf der Ebene der KMU besonders not, weil es dort oft am Gefahren- und Sicherheitsbewusstsein, an notwendigen personellen und finanziellen Ressourcen mangelt. Die Sicherheitsbehörden des Bundes und der Bundesländer unterstützen über Gesetzgebung und Justiz hinaus den Wirtschaftsschutz in Partnerschaft mit den zuständigen Wirtschaftsverbänden in hohem Maße, gerade auch für KMU. 

 

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