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Interview mit dem deutschen ESA-Astronauten Alexander Gerst

26.03.2018 - Im Jahr 2009 wurde der deutsche Geophysiker Alexander Gerst (41) aus über 8000 Bewerbungen als neuer ESA-Astronaut ausgewählt. Von Mai bis November 2014 absolvierte er mit Blue Dot...

Im Jahr 2009 wurde der deutsche Geophysiker Alexander Gerst (41) aus über 8000 Bewerbungen als neuer ESA-Astronaut ausgewählt. Von Mai bis November 2014 ­absolvierte er mit „Blue Dot“ seine erste Mission auf der internationalen Raumstation ISS. Im April 2018 wird er zu seiner zweiten Mission „Horizons“ aufbrechen – und in der zweiten Hälfte des Aufenthalts auf der ISS die Aufgabe des Kommandanten ­übernehmen. Unsere Wiley-Kollegin Maike Pfalz führte ein Interview für das „Physik Journal“ mit unserem Helden aus dem All – und bekam selbstverständlich auch Fragen aus der Sicherheits-Community mit ins Weltraum-Gepäck.

GIT SICHERHEIT: Herr Gerst, was ist Ihnen von Ihrer ersten Mission am meisten in Erinnerung geblieben?

Alexander Gerst: Zum einen der Blick auf die Erde von dort oben, das ist einzigartig und unvergesslich! Zum anderen war das die Freundschaft zwischen den Mannschaftsmitgliedern. Es ist eine besondere Erfahrung, ein halbes Jahr auf einer Raumstation zu verbringen und so erfolgreich zusammen zu arbeiten.

Da gab es also keine Streitereien, obwohl Sie sich nicht aus dem Weg gehen konnten?

Alexander Gerst: Das könnte es theoretisch zwar geben, aber wir trainieren vorher schon über Jahre zusammen als Mannschaft. Im Zuge der Vorbereitung verbringen wir viel Zeit miteinander, unter anderem bei minus 30 Grad im Wald beim Überlebenstraining in Russland. Wenn es da Spannungen gäbe, hätten wir das vorher gemerkt und daran arbeiten können.

Was waren stattdessen die Herausforderungen?

Alexander Gerst: Die Vorbereitung auf die Mission! Innerhalb von drei Monaten Russisch zu lernen, war eine der schwierigsten Sachen, die ich je in meinem Leben gemacht habe. Beim Missionstraining ist es dann die Kunst des Astronautenberufs, Informationen zu filtern!

Inwiefern?

Alexander Gerst: Schon zwei Jahre vor dem Start bekommt man in jeder Trainingseinheit so viele Informationen und Details, dass man sich garantiert nicht alles merken kann. Deswegen ist es unsere Aufgabe, die wichtigen, relevanten Dinge herauszufiltern und uns diese zu merken. Wenn man das beherrscht, hat man beim Start alles, was man braucht.

Wie sah eigentlich Ihre Astronautenausbildung aus?

Alexander Gerst: Im Basistraining habe ich allgemeine technische Inhalte gelernt wie den Aufbau einer Raumstation, die Trägerraketentechnologie oder Sicherheitssysteme. Dazu kamen Russisch, eine medizinische Ausbildung und viel Sport, denn ein Astronaut muss gesund sein. Das hat etwa anderthalb Jahre gedauert. Anschließend ist man nominierbar für eine Weltraummission. Für eine solche gibt es das spezielle Missionstraining. Für einen Aufenthalt auf der ISS bereiten wir uns zweieinhalb Jahre lang konkret vor, weil man dort auf alles vorbereitet sein muss. Da ist man Mädchen für alles.

Und wie steht es derzeit mit den Vorbereitung für Ihr nächstes Abenteuer, die Horizons-Mission?

Alexander Gerst: Anders als bei meiner letzten Mission sitze ich dann auf dem Ko-Pilotensitz der Sojus-Kapsel, die muss man im Notfall komplett alleine fliegen können. Deswegen trainiere ich das intensiv. Dazu muss ich beispielsweise lernen, das Raumschiff mit zwei Joysticks rückwärts an der Raumstation anzudocken, falls alle Automatiksysteme ausfallen sollten. In den USA trainiere ich, im Raumanzug zu arbeiten oder wie man in Notfällen reagieren muss. Als Kommandant werde ich weitergehende Verantwortung haben und muss immer auf das Leben der Crew achten – in einem Notfall, aber auch im normalen Arbeitsalltag.

Haben Sie ein spezielles Lieblingsexperiment?

Alexander Gerst: Nein, am spannendsten finde ich, dass wir in so vielen unterschiedlichen Bereichen arbeiten: Biologie, Humanphysiologie, Werkstoffkunde, Physik oder Chemie. Wir erforschen Plasmen und neue Halbleiterkristalle, wir haben Atomuhren und bald das erste Bose-Einstein-Kondensator im Weltraum.

Also muss man als Astronaut Fachmann auf vielen Gebieten sein…

Alexander Gerst: Die Versuche sind natürlich so konzipiert, das sie von jemandem bedient werden können, der sich nicht im Detail auskennt. Letztendlich ist man auf der Raumstation mehr Laborassistent als Wissenschaftler.

Wie tief steigen Sie in diese Experimente ein?

Alexander Gerst: Während meiner letzten Mission habe ich über hundert Experimente durchgeführt, da ist es unmöglich, wissenschaftlich alles im Detail zu verstehen. Dennoch ist es für manche Experimente wichtig, Dinge genau zu beobachten. Manchmal benötigt man auch wissenschaftliche Intuition, wenn ein Experiment anders ausgeht als erwartet.

Was können Sie dann tun?

Alexander Gerst: Mit den Wissenschaftlern am Boden gemeinsam eine Lösung finden, damit man das Experiment trotzdem erfolgreich durchführen kann. Es macht wirklich Spaß, wenn man merkt, dass man als Wissenschaftler etwas zum Erfolg eines Experiments beitragen kann. Die Raumstation ist eine sehr gute Symbiose aus Robotik und Astronautik: Zu einem großen Prozentsatz ist die ISS ein robotisches Labor, das aber nur deshalb so gut funktioniert, weil Menschen an Bord sind, die eingreifen können, wenn etwas schief geht.

Ist Ihnen das schon passiert?

Alexander Gerst: Beim elektromagnetischen Levitator war ein Bolzen gebrochen und hat verhindert, dass das Experiment installiert wurde. In Absprache mit der Bodenkontrolle bin ich da beherzt mit dem Sägeblatt rangegangen. Seitdem läuft das Experiment sehr erfolgreich.

Nächstes Mal sind Schülerexperimente des Wettbewerbs „Überflieger“ dabei. Ist das nochmal etwas Besonderes für Sie?

Alexander Gerst: Auf jeden Fall. Zum einen wollen wir damit der jungen Generation vermitteln, dass es sich lohnt, Wissenschaftler oder Ingenieur zu werden. Das sind die Berufe der Zukunft! Als ich klein war, habe ich meine Vorgänger im Space Lab und in der Raumstation MIR arbeiten sehen. Das hat mich dazu inspiriert, in die Wissenschaft zu gehen. Zum anderen sind bei solchen einfachen Schülerversuchen bereits so überraschende und neue Dinge herausgekommen, dass daraus inzwischen „richtige“ wissenschaftliche Experimente geworden sind.

Was sind die Hauptziele Ihrer nächsten Mission?

Alexander Gerst: Bei meiner letzten Mission Blue Dot wollten wir die Perspektive von außen auf die Erde zeigen. Bei der Horizons-Mission möchten wir über die Horizonte hinausschauen, das können wissenschaftliche Horizonte sein, geografische oder persönliche. Wir wollen deutlich machen, dass es wichtig ist für uns, unsere Grenzen immer zu erweitern und nicht stehenzubleiben.

Wieso ist das so wichtig?

Alexander Gerst: Letztendlich kann man die Menschheit mit einem Inselvolk vergleichen. Ein Inselvolk muss den Ozean um sich herum gut verstehen. Für uns Menschen ist es lebensnotwendig, dass wir die kosmische Umgebung kennen, von der aus auch Gefahren auf uns einwirken können. Diese müssen wir verstehen, bevor es zu spät ist.

Wie läuft ein Tag auf der ISS ab?

Alexander Gerst: Ähnlich wie auf der Erde, aber sehr arbeitsreich – wir haben mindestens einen 12 Stunden-Arbeitstag, aber dafür hat man es natürlich auch nicht sehr weit zur Arbeit (lacht). Wir beginnen den Tag normalerweise mit einer Konferenz mit der Bodenkontrolle, in der wir beispielsweise erfahren, wie der technische Status der Station ist oder was über Nacht passiert ist. Darüber hinaus haben wir zahlreiche Aufgaben: wissenschaftliche Versuche, Wartungsarbeiten, Sport.

Klingt nicht sehr abwechslungsreich…

Alexander Gerst: Ist es aber! Die Aufgaben sind so vielfältig, dass man Wochen lang Dinge tun kann, ohne dass die sich wiederholen! Selbst nach einem halben Jahr auf der Raumstation lernt man noch jeden Tag etwas Neues. Der Arbeitstag endet meistens gegen 19 oder 20 Uhr mit einer weiteren Konferenz mit der Bodenstation. Nach dem Abendessen ist Zeit für Sport oder E-Mails. Man hat jeden Tag etwa eine Stunde Freizeit für sich, in der mal aus dem Fenster schauen kann.

Wenn Sie nächstes Jahr Kommandant sind, wird sich das vermutlich ändern, oder?

Alexander Gerst: Mit Sicherheit. Als Kommandant ist man zunächst einmal normales Crewmitglied und hat dieselben Aufgaben wie alle anderen auch. Darüber hinaus sehe ich es als meine Aufgabe an, darauf zu achten, dass es den anderen gut geht und mal auszuhelfen, wenn Not am Mann ist. Zudem muss man mit der Bodenkontrolle kommunizieren und den Gesamtplan der Mission im Auge behalten. Das bedeutet viel Extraarbeit.

Welche Sicherheitsmaßnahmen haben Sie ­eigentlich auf der ISS?

Alexander Gerst: Wir bereiten uns auf drei große Notfallszenarien vor, die unmittelbar das Leben der Mannschaft bedrohen. Das sind ein Feuer, ein Druckverlust durch ein Loch in der Außenhaut und als drittes der Eintritt von Ammoniak aus den äußeren Kühlsystemen, denn das würde die Atmosphäre vergiften. Auf alles muss man schnell reagieren. Alleine die Notfallprozeduren, die es für diese drei Szenarien gibt, füllen drei zentimeterdicke Bücher, weil das so komplex ist. Es macht zudem einen großen Unterschied, wo ein Notfall auftritt – ob in einem Rettungsvehikel der Soyuz, in einem Modul ganz hinten an der Raumstation oder in einem zentralen Modul. Je nachdem gibt es unterschiedliche Entscheidungsszenarien, die man als Kommandant im Blick haben muss. Da in solchen Situationen meist keine Kommunikation mit der Bodenkontrolle möglich ist, muss der Kommandant entscheiden, weil man komplett auf sich alleine gestellt ist. Als oberste Priorität gilt es, das Leben der Mannschaft zu sichern, als zweite Priorität das Überleben der Station. Das ist schon nicht ganz ohne, deswegen trainieren wir das auch intensiv. Im letzten Jahr vor dem Flug besteht fast die Hälfte des Trainings aus Notfalltraining, wo man sich all diese Situationen anschaut und übt, wie man als Mannschaft zusammen arbeiten und reagieren muss.

Aber generell arbeitet man einen Leitfaden ab?

Alexander Gerst: Den gibt es zwar, aber häufig erfordert eine Situation, davon abzuweichen. Deswegen muss man sehr genau wissen, wann man von den Standardprozeduren abweicht bzw. dazu zurückkehrt. Das ist die Kunst an der Sache.

Wer entscheidet in dem Fall, was zu tun ist?

Alexander Gerst: Da in solchen Situationen meist keine Kommunikation mit der Bodenkontrolle möglich ist, muss der Kommandant entscheiden. Als oberste Priorität gilt es, das Leben der Mannschaft zu sichern, als zweite Priorität das Überleben der Station.

Wie ist man bei einem Außeneinsatz gesichert?

Alexander Gerst: Zum einen durch ein Drahtseil, das einen mit der Luftschleuse verbindet. Zusätzlich gibt es ein Hakensystem, das man an Haken und Handläufen befestigen kann, und drittens besitzt der Raumanzug ein kleines Jetantriebssystem. Würde man frei von der Raumstation wegdriften, kann einen das System mit 24 kleinen Antriebsdüsen, die mit Stickstoff arbeiten, wieder zurück katapultieren. Auch das trainieren wir. Letztendlich ist das aber nicht der schwierigste Teil des Außenausstiegs.

Sondern?

Alexander Gerst: Komplex ist vielmehr, dass man sich in einem kleinen Raumschiff befindet, nämlich dem Raumanzug. Der besitzt alle notwendigen Systeme. Natürlich kann auch da etwas schiefgehen, es kann technische Probleme geben oder man kann von einem Mikrometeoriten getroffen werden. Das sind Dinge, auf die man dann reagieren muss und die ein höheres Risiko mit sich bringen, als dass man einfach von der Station wegdriftet.

Hat man in der Situation Angst?

Alexander Gerst: Dann hätte ich den falschen Job gewählt. Angst ist ein Gefühl, das man hat, wenn man in einer Situation die Kontrolle verliert. Das vermeiden wir, indem wir nicht nur die normalen Abläufe intensiv trainieren, sondern auch Notfälle. Wenn dann tatsächlich ein Notfall auftritt, ist es das Ziel, die Kontrolle über die Situation zu behalten und dadurch ein solches Angstgefühl zu vermeiden.

Die ISS wird es nicht ewig geben. Was könnte danach kommen?

Alexander Gerst: Die ESA arbeitet gerade mit der NASA zusammen am Orion-Raumschiff. Das ist ein Raumschiff der nächsten Generation, das mit europäischer Antriebstechnologie weit über den niedrigen Erdorbit hinaus fliegen können wird. Wir lernen von unseren derzeitigen Missionen, welche Systeme wir an Bord solcher Raumschiffe brauchen, wie die Lebenserhaltungssysteme funktionieren müssen, damit wir langfristig weiter rausfliegen können, wie der menschliche Körper auf Schwerelosigkeit reagiert und wie wir psychologisch damit arbeiten, wenn wir uns beispielsweise zwei, drei Jahre lang auf engstem Raum eingezwängt auf dem Weg zum Mars befinden.

Auf dem Mars gibt es ja bereits Rover. Warum müssen noch Menschen dorthin fliegen?

Alexander Gerst: Wenn wir zum Mars fliegen, geht es nicht nur darum, den Mars zu erforschen, sondern auch uns selbst. Es hätte enorme Konsequenzen für unser Selbstverständnis, wenn wir auf dem Mars Spuren von Leben, ausgestorben oder noch existierend, finden würden – und das beim allerersten Blick über den Tellerrand der Erde! Das würde vermutlich bedeuten, dass es draußen im Universum vor Leben nur so blüht. Entweder weil Leben transportiert werden kann von einem Planeten zum anderen. Oder weil Leben leichter entsteht, als wir denken.

Was treibt Sie eigentlich an, Ihre Erlebnisse, ­Fotos und Gedanken mit der Außenwelt zu teilen?

Alexander Gerst: Die Neugierde. Ich wollte schon immer herausfinden, was hinter dem Horizont liegt, was sich hinter dem nächsten Baum verbirgt. Das habe ich wohl mit allen Wissenschaftlern und Ingenieuren gemeinsam. Und ich hatte schon immer das Gefühl, Bilder teilen zu wollen mit den Menschen, die nicht an diesen außergewöhnlichen Orten sein können. Das sehe ich auch als meine Verantwortung. Als Astronaut befinde ich mich in einer sehr privilegierten Situation – ich darf die Erde von außen sehen und in Schwerelosigkeit forschen. Mit meinen Eindrücken möchte ich den Menschen vermitteln, wie es ist, im Weltraum zu sein.

Was würden Sie dem Nachwuchs raten?

Alexander Gerst: Auf alle Fälle ist es wichtig, diese Neugierde und Lebensfreude am Leben zu erhalten, die jedes Kind hat. Die Neugierde darf man sich nicht ausreden lassen. Ich hatte das Glück, dass meine Familie das nie versucht, sondern sogar gefördert hat. Ohne das wäre ich sicherlich nicht Astronaut geworden. Deswegen ist meine Nachricht: Lasst euch die Neugierde nicht ausreden und gebt eurem Traum eine Chance! Ich bin auch nicht davon ausgegangen, dass ich wirklich Astronaut werde, aber ich habe meinem Traum eine Chance gegeben. Manchmal kommt man also sehr viel weiter, als man es für möglich hält.

Welche Träume haben Sie jetzt noch?

Alexander Gerst: An Träumen hat es mir noch nie gemangelt. Ich träume davon, noch weiter rauszufliegen als Astronaut – zum Mond oder sogar zum Mars. Natürlich wird es noch einige Zeit dauern, bis wir zum Mars fliegen. Aber das Wichtige ist, dass wir als Menschheit jetzt die Entscheidung treffen, in diese Richtung zu gehen.

Herr Gerst, wir danken für dieses Gespräch.

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